Russland hat ein Problem mit ausgesetzten Hunden. Für die Vierbeiner kann jeder Tag über Leben und Tod entscheiden. Vermittler wie die MIRA Hundehilfe Moskau e.V geben ihnen die Chance auf ein normales Leben in einer neuen Familie.
Aufgeregt tollt Lina durch den Garten eines Einfamilienhauses in Uelzen. Der Spielzeugknochen bleibt fest in der Schnauze des schwarzen Australien Kelpie Mischlings, während er auf dem Rasen Haken schlägt. Vor einem Jahr war die zweijährige Hundedame noch so verängstigt, dass sie selbst vor Spielzeug Reißaus genommen hat. Jetzt erinnert nur noch ihr russischer Impfpass an ihre Heimat, wo sie die ersten Monate ihres Lebens verbracht hat. Und wo sie, vor einer Schule angebunden, ihrem Schicksal überlassen wurde.

Fälle wie Lina sind keine Seltenheit in Russland. Hunde genießen hier nicht den in Deutschland verbreiteten Status als zusätzliches Familienmitglied, sondern werden eher als Alarmanlage oder Prestigeobjekt gesehen. Wenn die Vierbeiner krank werden oder für den Besitzer ihren Reiz verlieren, werden sie meist einfach ausgesetzt. „Hunde sind in Russland rechtlich fast wertloser Besitz“, erklärt Irina Gröschler. Sie wurde in Russland geboren und hat über 50 Jahre dort gelebt. Seit 2010 engagiert sich die studierte Marketingmanagerin beim Moskauer Tierschutz. Zwar wurde 2018 ein neues Tierschutzgesetz eingeführt, dies sei aber bei weitem nicht so ausgereift wie in Deutschland.
Trotzdem gibt es auch in Russland viele Tierschützer, die sich täglich für Streuner einsetzen, indem sie sie versorgen oder falls möglich in ein Tierheim bringen. Auch Irina war, bevor sie 2015 nach Deutschland kam, viel für in Not geratene Hunde unterwegs. Um die Tiere nicht in staatlich finanzierten Tierheimen abzugeben, in denen sie oft vernachlässigt oder misshandelt werden, hat sie mehrere Streuner bei sich zuhause aufgenommen und sogar extra ein kleines Haus für sie gebaut. Allerdings konnte sie sich aus Aufwand- und Platzgründen nur um ein paar Hunde gleichzeitig kümmern.
Obwohl Irina nicht mehr in Moskau lebt, setzt sie sich trotzdem für dort ausgesetzte Hunde ein, indem sie mit ihrem Verein MIRA Hundehilfe Moskau e.V. Tiere an neue Familien vermittelt. Sie freut sich darüber, gleichzeitig Mensch und Tier glücklich zu machen. Als sie 2015 nach Deutschland kam um ihren Mann Herbert zu heiraten, verbrachten sie ihre Hochzeitsreise bei einem Seminar. Damit verdienten sie sich die Lizenz zur Hundevermittlung in Deutschland. Zusammen gründeten die beiden 2016 die MIRA Hundehilfe Moskau e.V. im niedersächsischen Bad Bevensen.
Über den Verein ist Irina im stetigen Kontakt mit anderen russischen Tierschützer. Manche öffnen private Pflegestationen, die den Hunden Auslauf, Pflege und Training bieten. In so einer privaten Unterkunft konnte auch Lina Ende 2019 unterkommen, nachdem ein Tierschützer sie, auf einem Schulhof ausgesetzt, auflesen konnte. Ohne Hilfe wäre sie wahrscheinlich erfroren oder verhungert. In der Station wurde die Hundedame dann, wie bei über 6 Monate alten Hunden üblich, kastriert. Darauf folgten die nötigen Impfungen sowie Gesundheitschecks. Währenddessen kümmert sich Irina um die Vermittlung. Mit Bildern und Videos erstellt sie ein Profil, das sie dann auf der Website von MIRA veröffentlicht.
So hat auch Ulrike Dreyer ihre Lina gefunden. Auf der Suche nach einem neuen Hund stieß sie zufällig auf die Internetseite von MIRA. Im Austausch mit Irina wurde ihr dann Lina empfohlen, und die verspielten Videos hatten sie sofort überzeugt. Damit startete für Lina die Vorbereitung zur Vermittlung, die jedes Jahr um die 60 Hunde durchlaufen. Erst ging es für sie zu einer lokalen Behörde, wo Impfungen überprüft werden sowie Wurm- und Parasitenprüfungen stattfinden. Dafür erhält sie eine Bescheinigung, mit der am Moskauer Flughafen die europäischen Papiere ausgegeben werden. Damit ist Lina offiziell flugbereit.
Bevor sie in Deutschland ihre neue Familie treffen kann, musste die Hündin noch verzollt und vom Veterinäramt durchgeprüft werden, worum sich Irina kümmerte. Die Kosten dafür, wie auch für Impfungen und Papiere, trägt sie durch MIRA. In der neuen Heimat angekommen wurde Lina von Irina abgeholt und mit nach Hause genommen, wo sie auf ihr neues Frauchen Ulrike warten konnte. Je nach Situation kann die Übergabe aber auch direkt am Flughafen stattfinden oder der Vierbeiner direkt zur neuen Familie gebracht werden.

Wie lange die Vermittlung dauert hängt vor allem vom Alter und Wesen des Hundes ab. Welpen finden laut Irina am schnellsten ein neues Herrchen oder Frauchen, oftmals schon wenige Monate nachdem sie ins Tierheim kommen. Alte und kranke Tiere brauchen hingegen meist etwas länger. Einige können aber auch gar nicht vermittelt werden. Insbesondere wenn Hunde für eine lange Zeit schlecht behandelt wurden oder jahrelang auf der Straße leben mussten reagieren sie teils sehr ängstlich oder aggressiv.
Mit illegalem Welpenhandel hat MIRA allerdings nichts gemein, auch wenn meist junge Hunde oder Welpen vermittelt werden. Irinas Hundehilfe ist ein ehrenamtlicher Verein, und für die Tierschützerin gehe es niemals um Geld. Ihr Ziel sei es, den Hunden zu helfen, die sonst in Russland sterben würden. „Ideal ist es für uns, wenn wir gar keinen Profit machen, sondern jegliches Geld direkt wieder in die Hunde investieren können“, erklärt Irina. Und durch Impfungen, Papier, Zoll und gegebenenfalls auch Operationen habe sie genug Stellen zur Investition.
Durch Irinas Einsatz finden auch schwierigere Fälle oft ein liebevoller Besitzer. So zum Beispiel Monty, der zusammen mit seinen Geschwistern als Welpe in einem Sack auf einem Feld ausgesetzt wurde. Seine verkrüppelte Pfote wäre auf den Straßen Russlands ein Todesurteil gewesen. Aber bevor es so weit kommen konnte wurden die tapsigen Vierbeiner in ein privates Tierheim gebracht. Mit einer teuren Operation konnte Montys Fuß gerichtet werden. Unabhängig von seinen Vorerkrankungen kann er heute ein normales Leben in einer liebevollen Familie führen.
Um sicher zu stellen, dass es den Hunden in der neuen Heimat gutgeht, bleibt Irina zur Nachkontrolle mit den Familien im Kontakt. So hat sie auch den Werdegang von Lina mitbekommen, die sich vom schüchternen Angsthasen zum überdrehten Energiebündel entwickelt hat. „Am ersten Tag mussten wir Lina noch zu zweit aus dem Auto und ins Haus tragen“, erinnert sich Ulrike. Inzwischen sei sie so aktiv, dass schon mehrere Spaziergänge pro Tag nötig seien. Und auch beim Kontrollbesuch bei Irina konnte Lina aufgeweckte erkunden.

Problematisch wird es für die Tierschützerin besonders dann, wenn ein Vierbeiner schon einige Zeit in einem neuen Haushalt lebt und dann doch noch zurückgebracht wird. Durch die Vermittlungsarbeit hat sie fast immer mindestens drei Hunde im Garten, um die sie sich täglich kümmern muss. Wenn da noch ein vierter oder fünfter hinzukommt ist es für sie sehr aufwendig. Und auch für das Tier stellt der ständige Wechsel eine psychische Belastung dar. Umso mehr freut sich Irina über erfolgreiche Vermittlungen wie Lina, denn sie ist sich sicher: „Wir können zwar nicht die Welt retten, aber wir retten immer die Welt eines Hundes.“