20 Jahre Weltausstellung – Was von der Expo 2000 in Hannover übrig bleibt

Es war die bislang einzige Weltausstellung in Deutschland und sollte Hannovers Image aufpolieren. Doch bereits während der Expo 2000 zeichnete sich ein anderes Bild: Erwartungen wurden verfehlt und die Nachnutzung der Pavillons nicht geklärt – es gibt aber auch positive Effekte der Weltausstellung. Und auf dem ehemaligen Gelände ist viel in Bewegung.

Leuchtend orangene, um Baumstämme gewickelte Bänder flattern im kalten Wind, der durch zerbrochene Glaswände und nur noch lose befestigte Holzgeländer pfeift. Das 40 Meter hohe Gebäude wird von einem meterhohen Metallzaun umringt, der nicht das Bauwerk selbst, sondern vor allem Interessierte schützen soll. „Betreten verboten“ – neben einem Schild unterstreicht auch der Stacheldraht am oberen Ende des Zauns diese Botschaft. Und das alles, obwohl der ehemalige Holländische Pavillon trotz seiner Baufälligkeit im strahlenden Sonnenschein weiterhin imposant wirkt. Er gilt als heimliches Wahrzeichen, symbolisch für die Weltausstellung damals und heute.

Und er zeigt, dass hier am Expo-Gelände etwas nicht so recht zusammenpassen mag. Keine hundert Meter vom einsturzgefährdeten Pavillon werden Luxusautos einer italienischen Traditionsmarke verkauft. Etwas südlicher stehen zerstörte Gebäude neben umgebauten Pavillons; dazwischen finden sich immer wieder weite grüne Flächen ohne jegliche Verwendung. Entstanden ist das gesamte Gelände für die Weltausstellung, die im Jahr 2000 in Hannover stattfand. Für sie wurde der noch freie Bereich am Kronsberg zum größten Messegelände der Welt. Dass Hannover überhaupt den Zuschlag für die Expo 2000 erhielt, war angesichts der Konkurrenz aus Toronto etwas überraschend – und die Pläne zugleich umstritten. Letztendlich setzte sich der damalige Oberbürgermeister der Stadt, Herbert Schmalstieg, zusammen mit Generalkommissarin Birgit Breuel durch, beim Bureau International des Expositions (BIE) erhielt Hannover eine Stimme mehr als der kanadische Mitbewerber. Es ist damals wie heute die einzige vom BIE anerkannte Weltausstellung in Deutschland. Entsprechend groß waren beim deutschen Debüt die Pläne: 40 Millionen Besucher sollten auf 160 Hektar Fläche die Vielfalt der Welt, bestehend aus 155 teilnehmenden Ländern, bestaunen. Als Maskottchen der Expo 2000 wurde „Twipsy“ erschaffen, die Ausstellung stand unter dem Motto „Mensch – Natur – Technik“ – damit sollte bewiesen werden, dass alles miteinander verbunden ist und im Einklang steht. Zudem wäre laut den Planern auch eine Nachnutzung, eines der größten Probleme von Weltausstellungen, hier problemlos möglich.

Viele leere Grünflächen statt bunten, nachgenutzten Pavillons

20 Jahre später sieht es auf dem Gelände so aus, als hätte die Natur überhandgenommen und die Menschen verdrängt, während die Technik (von damals) blieb. Von dem Konzept der Nachnutzung ging lange Zeit nicht vieles auf. Viele der Pavillons verfielen mit der Zeit, der große IT-Boom am Standort blieb aus. Nach ersten erfolgslosen Jahren wurde für die Vermarktung der Grundstücke eine eigene Firma gegründet. Zuständig ab dem Jahr 2004 war die Expo Grund, eine Tochtergesellschaft des städtischen Wohnungsunternehmens Hanova. „Es ging nur um die unbebauten Grundstücke, die Grundstücke mit Pavillons wurden häufig von Privatleuten gehalten“, sagt Hanova-Geschäftsführer Karsten Klaus. „Bei den Pavillons haben wir aber auch vermittelt, da wir an einer guten Gesamtentwicklung interessiert sind.“ Negativ-Beispiele wie der holländische Pavillon fielen damit nicht in ihren Zuständigkeitsbereich, der bislang unbebaute Abschnitt zwischen dem Gebäude und der Finbox dagegen schon. Es sind auch längst nicht alle Bauten in Hannover geblieben: So wurde der Mexikanische Pavillon wie einige andere an einen anderen Ort versetzt, der Polnische Pavillon dagegen abgerissen. Teilweise war dies aber auch notwendig, da Gebäude nach diversen Bränden wie beim Spanischen Pavillon stark beschädigt wurden. Doch für das gesamte Gebiet sind bereits Ideen für Neues da. „Wir haben mittlerweile alle unsere Grundstücke an Investoren mit entsprechenden Ideen verkauft“, so Klaus, der seit 2013 an dem Vermarktungskonzept beteiligt war. Er empfand die Voraussetzung am Messegelände auch als „sehr gut“. Nach langjähriger Vermittlungsarbeit habe die Gesellschaft „ihren Job gemacht“, so Karsten Klaus. „Die Expo Grund wird jetzt auch aufgelöst. Sie hat auch keinen Einfluss mehr darauf, was da passiert – die Entwicklung liegt jetzt bei den Unternehmen.“

Ob alle vorgelegten Pläne nach der Corona-Pandemie noch umgesetzt werden (können), bleibe aber offen. Und auch wie es mit einzelnen Pavillons weitergeht, ist noch nicht endgültig geklärt. Zwei der Sorgenkinder sind jedoch auf einem guten Weg: Der Holländische Pavillon wurde von der Wohnkompanie erworben. Passend zur angrenzenden Hochschule soll hier der sogenannte „HY_live“-Campus entstehen. Neben 380 kleinen Apartments sind auch Arbeitsflächen und Lernräume geplant – all dies bei Erhalt der speziellen Architektur mit den Baumstämmen als tragende Säulen und das Gebäude umarmenden Treppen. Ebenso ist der Pavillon Litauens mittlerweile veräußert und soll ebenfalls in seiner Grundstruktur als gelber „Staubsauger“ erhalten bleiben. Das familiengeführte Immobilienunternehmen Beste Bau hat das Gebäude gekauft und plant nach einer notwendigen Renovierung ihren Sitz dorthin zu verlagern. Beide Unternehmen wollten sich auf Anfrage nicht zu den genauen Plänen sowie Kosten äußern.

Expo-Anlieger freuen sich über neuen Anschluss zur Stadt

Der anscheinend aufkommende Trend zum Grundstück im Expo Park haben andere Investoren wie Mousse T. schon früher erkannt. Der weltbekannte Musikproduzent war einer der ersten, die dort ein Gebäude erworben haben und von dort auch arbeiten. Er ließ den ehemaligen Belgischen Pavillon zu einem Musik- und Eventzentrum mitsamt Tonstudio und Restaurant umbauen. Heute ist der Bau besser bekannt als Peppermint Pavillon, was mit der seit 15 Jahren dort ansässigen Peppermint Event Agentur zusammenhängt. „Wir wollten den Pavillon erstmal am regionalen und dann im besten Fall am nationalen Markt platzieren“, erklärt Volker Tolksdorf von Peppermint Event die Unternehmenspläne. Heute betreut die Agentur insgesamt elf Locations in ganz Deutschland. Neben dem Peppermint Pavillon gehört am Expo-Gelände auch der berühmte „Expo-Wal“ zum Angebot, in dem außerhalb von Corona-Zeiten regelmäßig Feiern und Gottesdienste stattfinden. Einen ehemaligen Pavillon zu nutzen birgt für Tolksdorf Vorteile ebenso wie Nachteile: „Zum einen ist es aufgrund der außergewöhnlichen Architektur des Gebäudes etwas Besonderes und man kann rund um den Peppermint Pavillon auch immer eine Geschichte erzählen. Zum anderen sind die Gebäude nur für ein halbes Jahr gebaut worden – der Renovierungs-, Sanierungs- und Instandhaltungsgrad ist dann nicht zu unterschätzen“, muss der Eventmanager eingestehen. Dennoch sei der Standort lohnenswert, weil sich eben so viel in den letzten Jahren getan habe – und auch derzeit noch tut.

Andere Zeiten, andere Marken: Zur Expo 2000 überragte der Tower als überdimensionale Postbox das Gelände der Weltausstellung – heute prangt am Gebäude das Logo des dortigen Autohändlers. (Fotos: Exposeeum/Robin Beck)

Weitere Änderungen an dem Standort kommen indirekt durch den nördlich angrenzenden Bereich. Dort entsteht ein neuer Stadtteil namens Kronsrode. Das Motto „Draußen in der Stadt“ gilt auch für das Expo-Gelände, welches durch die Erweiterung der Stadt besser angebunden sein soll. Wohnen in Kronsrode, zur Fuß zur Arbeit in dem Expo-Park – so die Vorstellung der Planer. Für Volker Tolksdorf ist das Projekt als Pavillon-Mieter „rein betriebswirtschaftlich nicht relevant“, wohl aber für das Image, welches dem Messegelände bis heute nachhängt. „Durch das Andocken von Kronsrode ist es in der Wahrnehmung der Leute alles Hannover und nochmal enger beieinander“, meint er. Für Hanova-Geschäftsführer Karsten Klaus ist es ein „tolles Gebiet, direkt an der Natur, wo auch Familien gerne wohnen“. Zudem sei die Anbindung an das Verkehrssystem optimal. Anscheinend brauchte es aber auch diesen zusätzlichen Stadtteil, um den Expo-Park mit seiner Lage an der südlichen Stadtgrenze in der breiten Wahrnehmung wieder an Hannover anzubinden.

Hier das gesamte Interview mit Volker Tolksdorf vom Peppermint Pavillon.

Dabei sind die Pavillons und der Expo-Park nicht die einzigen Dinge, die heute noch von der Weltausstellung übrig sind. So wurde für eine bessere Anbindung des Messegeländes die Stadtbahnlinie 6 bis zur Haltestelle „Messe/Ost“ verlängert. Um die geplanten Besuchermassen ohne lange Wartezeiten zur Expo und auch innerhalb Hannovers zu befördern, wurde auch eine komplett neue S-Bahn geschaffen. Von all dem profitiere Hannover noch heute, so Dennis Dix von der Stadt Hannover. „Die gesamte Region hat durch die Expo 2000 einen enormen Entwicklungsschub erfahren.“ Allerdings wäre es mit wirtschaftlichen Zahlen für diesen Erfolg „nicht so einfach“. Die bekannten Zahlen zu der Weltausstellung sprechen stattdessen für enttäuschte Erwartungen: Lediglich 18 Millionen Besucher kamen nach Hannover, weniger als halb so viele wie geplant. Ein Grund dafür lag in den überteuerten Ticketpreisen – erst nach Einführung eines günstigeren Abendtickets kamen auch mehr Interessierte. Und die sahen nicht nur ausgefallene Pavillons, sondern erlebten auch die verschiedenen Länder mit ihren kulinarischen und kulturellen Spezialitäten.

Expo-Museum bewahrt Erinnerungen – und sucht neue Räume

Um diese Erlebnisse und kleinen Details in Erinnerung zu behalten, gründete sich nach Ende der Weltausstellung das Exposeeum – ein Museum für Exponate und fotografische sowie filmische Rückblicke auf das Großereignis. Fast 20 Jahre lang konnten Expo-Begeisterte sich gegenüber des Deutschen Pavillons in Erinnerungen schwelgen, bis das Exposeeum im Oktober 2019 überraschend schließen musste. „Wir hatten viel geplant zum 20-jährigen Jubiläum, jetzt mussten wir alle Ausstellungsstücke erstmal zwischenlagern“, bedauert Maurice Semella, Archivleiter im Exposeeum. Mehr als 500 Quadratmeter Ausstellungsfläche fielen für das Museum nach der Kündigung durch den neuen Eigentümers weg. Bis heute, denn neue Räumlichkeiten sind noch nicht gefunden. „Durch Corona verzögert sich alles, aber wir sind an neuen Immobilien dran“, sagt der 23-Jährige. „Aktuell befinden wir uns daher in einer Art „Dornröschenschlaf“, aus dem wir hoffentlich bald wieder aufwachen werden.“ Das Interesse der Leute an dem Exposeeum sei weiterhin ungebrochen. Und auch zwei Jahrzehnte nach Ende der Weltausstellung in Hannover bekommen der Verein und seine 20 aktiven Mitglieder noch verschiedenste Gastgeschenke. „Eine Frau aus Kleefeld hat uns letztens noch Sitzkissen aus dem Jemen-Pavillon geschenkt. Wir freuen uns da über jede Spende und weitere Erinnerungsstücke der Expo 2000“, sagt Semella. Ziel des Exposeeums sei es, „etwas zu bewahren“, das Event war „eine einmalige Sache“.

Doch auch der ehrenamtlich aktive Archivleiter sieht die Probleme auf dem Expo-Gelände. Neben den abgerissenen oder an neue Orte versetzten Pavillons würden die verfallenen Gebäude wie der Holländische oder Litauische Pavillon die Extreme abbilden. „Am Ende holt sich die Natur alles wieder“, so Maurice Semella in Anspielung auf das Expo-Motto „Mensch – Natur – Technik“. Er selbst habe nicht viele Erinnerungen an die Weltausstellung im Jahr 2000, sei aber beeindruckt, wie sich die niedersächsische Landeshauptstadt präsentiert habe. „Man hat gezeigt, dass Hannover Weltstadt kann und auch weltoffen ist – und die Menschen haben sich in Hannover verliebt“, schwärmt Semella. Einiges bleibe außerdem unabhängig vom Alter bei den Leuten hängen. Für Volker Tolksdorf von Peppermint Event waren der „Deutsche Pavillon mit den riesengroßen konkaven Glasflächen“ und der Planet M, heute umfunktioniert zu Hochschulräumen, die Highlights der Weltausstellung. Und Hanova-Geschäftsführer Karsten Klaus blieb die Szene Erinnerung „wie Birgit Breuel und Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg sich in den Armen gelegen haben“ nach der Expo-Vergabe an Hannover. Auf dem Messegelände selbst seien es die Eindrücke der verschiedenen Nationen mit ihren Pavillons gewesen.

So verbindet jeder etwas anderes mit der Weltausstellung 2000 in Hannover – und nicht immer sind die ersten Gedanken daran verfehlte Erwartungen, eine fragwürdigen Nachnutzung sowie verfallende Pavillons. Um in Zukunft die Zweifel verschwinden zu lassen, soll sich in den kommenden Jahren viel auf dem Expo-Gelände verändern. Übriggeblieben sind aber auch die positiven Erinnerungen und ein gewandeltes Image Hannovers. Oder wie es Maurice Semella vom Exposeeum zusammenfasst: „Der Geist der Expo lebt weiter!“

Existenzkampf der Reisebüros: Wie Corona den Höhenflug einer Branche beendet

Die Corona-Krise traf die Reisebranche 2020 unvorbereitet und hart. Zwischenzeitlich lief der Tourismus wieder an – doch die finanziellen Ausfälle bleiben. Neben externen Finanzspritzen müssen auch eigene Lösungen her. Bleibt es bei kleineren Versprechen oder entstehen innovative, neue Reisemöglichkeiten?

Sommer 2020: In Hannovers Innenstadt herrscht wieder regeres Treiben. Nachdem der sonst so beliebte Treffpunkt Kröpcke im Herzen der Landeshauptstadt während der strengen Corona-Beschränkungen fast verwaist war, trauen sich immer mehr Leute in Geschäfte und Cafés. Ganz so gilt das für Reisebüros wie das von der TUI in unmittelbarer Nähe zur Kröpcke-Uhr noch nicht. Nur vereinzelt betreten Kunden das Geschäft, was mit dem Hygienekonzept zusammenhängt: Maximal zwei Kunden gleichzeitig, am besten nach vorheriger Terminvereinbarung über die Internetseite, da die Öffnungszeiten deutlich verkürzt wurden und viele Mitarbeiter in Kurzarbeit sind. Direkt hinter der Tür befindet sich eine kleine „Schleuse“ zum Desinfizieren der Hände. Es ist alles ein wenig anders, auch was die Urlaubsfreude von vielen Menschen angeht, so der Eindruck der Reiseberater. Und wenn Urlaub, dann bitte innerhalb Deutschlands – nur wird es da für Kurzentschlossene schwierig, noch etwas Passendes zu bekommen.

Das vergangene halbe Jahr als auch die Zeit jetzt sind für die TUI-Filiale am Kröpcke ebenso schwer wie für die gesamte Branche. „Die ‚Corona-Zeit‘ ist eine absolute Ausnahmesituation“, sagt Susanne Stünckel von TUI Deutschland. Denn als im März die Einschränkungen von der Bundesregierung beschlossen wurden, ging es für den Konzern primär darum, seine Urlauber aus der ganzen Welt wieder nach Hause zu bringen. „Das war die größte Rückholaktion der Unternehmensgeschichte“, so Stünckel.

Rückholaktion statt neuer Reisen ins Ausland – die Corona-Krise lähmt die Reisebranche.

Dagegen begann mit Reisewarnungen und Corona-Maßnahmen für die Reisebüros die eigentliche Herausforderung. Reisen mussten storniert und neue Buchungen vorerst nicht angenommen werden, die Kunden forderten Entschädigungen. Doch erst wenn eine Reise angetreten wird, bekommen die meisten Reisebüros ihre Provision. Daher wurde die sogenannte Gutscheinlösung diskutiert: Reisebüros müssen nicht das (Bar-)Geld an die Kunden zurückzahlen, sondern können stattdessen Gutscheine mit Geldwert für einen späteren Reisezeitpunkt ausgeben. Auch bei der TUI wurde „eine Gutscheinlösung für Kunden entwickelt, damit die Provision beim Reisebüro verbleiben kann“, sagt die TUI-Pressesprecherin Stünckel. Gleichzeitig gebe man den eigenen Reisebüros mit einem vorgezogenen Verkaufsfenster für die kommende Sommersaison die Möglichkeit neue Einnahmen für künftige Reisen zu generieren. Eine weitere Besonderheit bei dem in der niedersächsischen Landeshauptstadt beheimateten Konzern: Es werden bis Ende Oktober keine Provisionen zurückgefordert. Dazu erklärt Susanne Stünckel: „Da TUI die Provisionen für Reisebüros direkt nach dem Buchungszeitpunkt zahlt und nicht wie im Markt üblich erst bei Abreise, hilft auch diese Maßnahme, Liquidität in den Reisebüros zu sichern“.

Kein Urlaub für Reiseveranstalter: Wirtschaftliche Erholung erst in zwei bis drei Jahren

Auch die etwas kleineren Reisebüros haben mit den gleichen Problem zu kämpfen. Das Unternehmen Schörnig Reisen im Westen Hannovers wird seit Jahrzehnten familiengeführt und führt die verkauften Reisen auch eigens durch. Dies sind ausschließlich Busreisen, bei denen Abstandhalten und Hygienekonzepte besonders herausfordernd sind. „Knapp 400 Reisen wurden bislang im Zuge der Corona-Krise abgesagt“, benennt Willy Gräske vom Vertriebsmarketing die Ausfälle. Zwar sei die Zukunft des Unternehmens nicht gefährdet, weil man in den letzten Jahren gut gewirtschaftet habe, aber spurlos geht die Zeit nicht an dem Reiseveranstalter vorbei. Auch hier ist das auf dem Betriebsgelände angesiedelte, kleine Reisebüro längst noch nicht wieder im Normalbetrieb; die Öffnungszeiten sind verkürzt, Maskenpflicht sowie Desinfizieren ein Muss. Zudem musste Schörnig Reisen alle seine 20 Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken, bis zum Ende des Jahres sei diese beantragt. Gräske könne keine konkreten Zahlen für den eigenen Betrieb nennen, gehe aber von einem generellen Umsatzminus in der Branche von rund 70 Prozent aus und fügt an: „Die wirtschaftlichen Folgen werden für uns noch zwei bis drei Jahre spürbar sein.“

Ein Großteil der Busflotte von Schörnig Reisen steht derzeit still. (Foto: Robin Beck)

,Das schlägt sich auch in der aktuellen Saisonumfrage Tourismus der Industrie- und Handelskammer Niedersachsen (IHKN) nieder. Das Geschäftsklima in der Reisebranche bricht von 97,7 Punkten im Herbst 2019 um etwa zwei Drittel auf einen Wert von 32,9 Punkte für das Frühjahr 2020 ein. Zwar wird die bisherige Geschäftslage von Reiseunternehmen zu 82 Prozent mit „gut oder befriedigend“ am positivsten im Tourismus angegeben – gleichzeitig befürchten aber fast 95 Prozent eine ungünstigere Entwicklung der Geschäftslage für kommende Saisons, ebenfalls ein Höchstwert verglichen zu den anderen Bereichen. Anhand der abgefragten Risiken zeigt sich: Wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen, gefolgt von Arbeitskosten und Inlandsnachfrage, sehen die meisten Unternehmen als aktuelle Bedrohung für ihren Berufszweig. Doch wie kann man sich den genannten Risiken entgegenwirken oder sich zumindest vor ihnen absichern?

Wege aus der Krise: Hoffen auf staatliche Hilfen oder kreative Eigenideen?

Ein Weg, um zumindest die finanziellen Folgen abzudämpfen, sind Staatshilfen. Doch am Beispiel der beiden Reisebüros zeigt sich die unterschiedliche Behandlung zwischen den Unternehmen. Während die TUI einen Kredit in Milliardenhöhe von der staatlichen Förderbank KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau) bekam, müssen kleinere Reiseveranstalter wie Schörnig den Weg über die Hilfen für mittelständische Unternehmen aus dem Konjunkturpaket der Bundesregierung gehen. „Wir haben bereits Hilfen bekommen und beantragen gerade die nächste. Diese helfen zwar für einen kurzen Augenblick und sichern die Zahlungsfähigkeit – sie gleichen aber nicht die Folgen der Corona-Krise aus“, erklärt Willy Gräske. Nach der IHKN geht es vielen Betrieben so, jeder zweite in der Tourismusbranche benötige weitere Hilfen. Der Deutsche Reiseverband (DRV) geht sogar noch weiter: Er fordert monatlich 140 Millionen Euro „Corona-Überbrückungszuschuss“ für Reisebüros, zusätzlich zu einem „Wiederanlaufkredit“ von einer halben Milliarde sowie monatlich 120 Millionen Euro für Reiseveranstalter. Denn den „Gästen Mut zuzusprechen, wieder zu verreisen“ alleine löse „noch keinen Ansturm“ aus, so Gräske von Schörnig Reisen.

140 Millionen Euro pro Monat

fordert der Deutsche Reiseverband für das Überleben der Reisebüros

So wie mit Live-Konzerten über Social-Media-Plattformen von verschiedensten Künstlern oder Familientreffen per Videokonferenz über Zoom sah sich auch die Reisebranche zu neuen Lösungen für das weggefallene Hauptgeschäft gezwungen – hierbei allerdings mit nur wenigen grundlegenden Neuerungen. So habe die Krise Schörnig Reisen gezeigt, dass man schnellere Alternativen anbieten sowie die Zielgruppe verjüngen müsse. „Neben Reisen wollen wir zukünftig Informationsabende für sehr kleine Gruppen mit verschiedenen Themen rund ums Reisen verknüpfen“, erklärt Willy Gräske. Bei der TUI wurde Mitte Juli, angepasst zu den Lockerungen und den immer weiter anlaufenden Reisen, ein neuer Reiseschutz vorgestellt wurde. Der sogenannte „Covid Protect“ in Zusammenarbeit mit AXA Partners soll Urlaubern auf der ganzen Welt mehr Sicherheiten bei einer Corona-Erkrankung bieten. Der Schutz ist kostenlos und bei allen bestehenden sowie Neubuchungen mit Reiseantritt bis Ende des Jahres inkludiert. Allerdings empfiehlt die TUI zeitgleich auch eine Reiserücktritts- sowie Reisekrankenversicherung abzuschließen – nur auf den hauseigenen Reiseschutz sollten sich Kunden also nicht verlassen.

Virtuell verreisen – von der Couch in die weite Ferne

Ganz andere Wege geht das TUI-Tochterunternehmen Gebeco. Vom Sofa aus mit einem Klick in die Wildnis Kanadas, mit dichten Wäldern, malerischen Bergpanoramen und einem sich in der Seenoberfläche spiegelnden Sonnenaufgang – und das ganz ohne Risiko unfreiwillig einem Braunbären zu begegnen. Was klingt wie ein fortschrittliches Verreisen im nächsten Jahrhundert ist (in abgespeckter Variante) schon jetzt möglich. Eher zufällig entdeckte das Kieler Reiseunternehmen die Möglichkeit des „Virtuellen Reisens“ während der Pandemie. „Wir wollten Kunden einer speziellen Frankreichreise, die abgesagt werden musste, ein Trostpflaster anbieten. Daher haben wir mit einer virtuellen Reise über drei Abende die ganze Reise nachgespielt“, erklärt Alicia Kern vom Unternehmen. „Da dies gut lief, haben wir beschlossen es öfter zu machen, dafür aber nur jeweils eine Stunde und nur einen Abend.“ So wurden insgesamt schon mehr als 15 virtuelle Reisen angeboten. Die Anmeldung für diese Reisen ist gratis, über die Website stehen verschiedene Orte zu verschiedenen Tagen zur Auswahl. Durchgeführt werden die virtuellen Urlaube dann über Zoom, eine Anmeldung hierfür ist nicht notwendig. Die Reise selbst lässt sich mit einer Bilderpräsentation der Reiseleiter beschreiben, in der diese*r verschiedene Orte und Sehenswürdigkeiten des Angebots zeigt.

Urlaubsfeeling per Videokonferenz: Virtuelle Reisen sollen Fernweh stillen und Kunden binden. (Foto: Robin Beck)

Und dieser „Urlaub light“ kommt sehr gut bei den Kunden an. „Wir hatten jeweils über 120 Anmeldungen und immer zwischen 40 und 60 Teilnehmern. Unsere Gäste geben uns wirklich super Feedback und wir sind sehr angetan davon“, erzählt Kern. Für viele der Beteiligten wäre die virtuelle Reise das allererste Mal, dass „sie überhaupt so etwas wie Zoom genutzt haben“. Das Unternehmen unterstützte daher die Reiseleitungen und möchte auf technische Spielereien verzichten. „Das Format einer Bildpräsentation mit Live-Gespräch ist für unsere Zielgruppe vollkommen ausreichend – unseren Reisenden geht es vor allem um Input, viele Extras sind gar nicht notwendig“, so die Gebeco-Pressesprecherin. Da diese Veranstaltungen für jeden kostenlos zugänglich sind, sind sie eher als zusätzlicher Service sowohl des Unternehmens als auch der Reiseleiter zu sehen und dienen als Orientierungshilfe für zukünftige „reale“ Reisen. Denn „keine noch so gute virtuelle Reiseerfahrung kann eine Live-Reiseerfahrung vor Ort ersetzen“, sagt Alicia Kern. Das Konzept soll auch nach der Corona-Krise weiter beibehalten werden, um die Lust auf Urlaub bei den Menschen zu steigern, egal ob noch in diesem oder erst im nächsten Jahr. Das dürfte auch andere Reisebüros freuen: Denn die Ausfälle aus der Corona-Krise werden weder bei den großen Unternehmen noch kleineren Reisebüros & -veranstaltern zu ersetzen sein. Für sie bleibt nur die Hoffnung, dass schon bald wieder das Reisen auf der ganzen Welt ohne Einschränkungen möglich ist – denn ohne echte Innovationen scheinen nur etwas Abstand und Zeit die wirtschaftlichen Wunden heilen zu können.

Update Januar 2021: Ein halbes Jahr später sind die Aussichten für die Reisebranche weiterhin trist. Denn obwohl der Reiseverkehr zum Sommer 2020 langsam wieder anlief, wurde dieser durch einen zweiten Lockdown im Herbst wieder ausgebremst. Urlauber mussten bis dahin auch mit Vorsichtsmaßnahmen wie u.a. Corona-Tests vor und nach der Landung vorlieb nehmen. Gleichzeitig wurde aber auch der Vorwurf laut, dass eben jene Reisende auch eine zweite Welle begünstigt haben. Zudem wurden zahlreiche Urlaubsziele als Risikogebiete eingestuft. Dies bedeutete für Urlauber, dass eine Quarantäne nach der Rückkehr verpflichtend war. Beliebte Destinationen wie der „Ballermann“ auf Mallorca wurden nach kurzer Testphase gar ganz für Ausländer geschlossen.
Erneut wurden daher zahlreiche Reisen storniert, auch bei Schörnig. Viele der Busfahrten konnten mit verringerter Gästezahl, Masken- sowie Abstandsregelungen doch noch durchgeführt werden – bis im November wieder alles still stand. Ohne Aussicht auf weitere Reisemöglichkeiten in 2020 stellte das Familienunternehmen stattdessen schon Kataloge und Urlaubsziele für das kommende Jahr vor.

Da hilft es den Reisebüros zum derzeitigen Zeitpunkt auch nicht, dass die grundsätzliche Vorfreude und Bereitschaft für Urlaubsreisen in der Bevölkerung ungebrochen sind. Nach einer Umfrage des Reiseunternehmens Tourlane hat für 85 Prozent der Deutschen das Reisen eine hohe Priorität in 2021. Ob diese Einstellung mit verlängerten Lockdownmaßnahmen und mutierten Virusarten auch heute noch besteht, hängt wohl mit den gebotenen Sicherheiten während einer Reise zusammen.
Um überhaupt in Zukunft noch Reisen anbieten zu können, hat die TUI AG im Dezember die mittlerweile dritte Finanzspritze bekommen. Neben einem Darlehen von der KfW im Frühjahr und einem Kredit vom Bund Ende September sind mit den 1,8 Milliarden Euro im Dezember insgesamt knapp fünf Milliarden Euro an den Reiseveranstalter aus Hannover geflossen. Die EU-Kommission genehmigte die Staatshilfen als „erforderlich, geeignet und angemessen“, da TUI nicht „über eine erhebliche Marktmacht“ verfüge. Die Hilfen sollen nach Konzernangaben die Reisebeschränkungen bis zum Beginn der Sommersaison 2021 ausgleichen. Im vergangenen Jahr war der Umsatz des Unternehmens in der Sommersaison um 98,5 Prozent eingebrochen. Mit Blick auf die Reisebüros wurden bislang noch kein Stellenabbau oder Filialschließungen bekannt. Nach der Umfrage von Tourlane wollen jedoch fast ein Drittel aller Befragten weniger fliegen und Kreuzfahrten vermeiden – zwei der Kerngeschäfte von TUI, die in eben jenen Reisebüros angeboten werden.

Doch die durch die Pandemie hervorgerufene, neue Situation hat auch für neue Möglichkeiten gesorgt. Das Virtuelle Reisen von Gebeco wurde bis in den Winter weiterverfolgt und stieß auf viel Anklang bei den Kunden. So gab es Mitte Dezember den Abschluss des Projekts für dieses Jahr: Mit der virtuellen Weihnachtsreise ging es in gleich fünf Länder (Frankreich, Kanada, Mexiko, Polen und Myanmar), zu denen die jeweiligen Experten eine kleine Präsentation zeigten. Als weiteres, öffentlich wirksames Mittel, um Kunden zu halten, nutzt das Reiseunternehmen seit Februar 2020 einen Podcast. Ging es in den ersten Folgen vorrangig um allgemeine Infos und Tipps, werden nun auch immer wieder Reiseinspirationen gegeben.
Natürlich dienen die digitalen Angebote nur als Übergangslösung und Kundenbindung für reale Reisen in 2021. In Zeiten von Lockdowns und Reisebeschränkungen sind es für viele aber auch eine Art Flucht in die Freiheit der fernen, weiten Welt.

Kein Versuch auf die Meisterschaft

Corona-Krise lässt Meistertraum von Hannover 78 platzen

Sie waren in der Saison bislang ungeschlagen und standen auf Platz 1 der Bundesliga Nord-Ost. Eigentlich war der Weg zur Finalrunde so kurz, der Titelgewinn so nah – bis das Coronavirus die Rugby-Mannschaft von Hannover 78 ausbremste. Weiterlesen →

Kicken in der Krise

Die Corona-Pandemie trifft den Amateurfußball wie ein hüfthoch eingrätschender Libero: mit voller Wucht und gnadenlos. Im ungleichen Zweikampf mit dem Virus müssen Spieler, Teams und Vereine ihre Freiheiten einbüßen. Welche Blessuren das Duell hinterlässt, zeigt der exklusive Liveticker.

15:45 Uhr:
Samstagnachmittag, Ende Mai. Die warme Frühlingssonne am wolkenlosen Himmel taucht die kurzgemähte Rasenfläche in leuchtendes Grün. Auf dem widernatürlich markierungslosen Fußballplatz zeichnet sich der lange Schatten des turmhohen Flutlichtmasten neben dem Eingangstor ab. Das feinmaschige Abfangnetz hinter der Torauslinie wölbt sich im sanften Westwind. Wie eine schillernde Oase zwischen der Monotonie des umliegenden Ackerlandes sticht die Heimspielstätte des SV Engern aus dem Landschaftsbild hervor. Der umzäunte Sportplatz des Kreisligisten ist die geografische Nordspitze des 1000-Seelen-Dorfes im niedersächsischen Landkreis Schaumburg.

Wäre Fußball hier eine konventionelle Religion, das ein Hektar bemessene Grasterrain wäre die heilige Pilgerstätte einiger hundert tiefgläubiger Rundleder-Anhänger, die sich im zweiwöchigen Rhythmus zur 90-minütigen Beistandszeremonie ihrer elf Auserwählten am Samstagnachmittag aufmachten. Doch in der ersten Jahreshälfte 2020 n. Chr. bleibt der dörfliche Wallfahrtsort gänzlich entvölkert. Das Coronavirus – mutiert zum teuflischen Antagonisten des Deutschen liebsten Hobbys – restringiert die freie Entfaltung der fußballerischen Sinnesgemeinschaft.

Verwaiste Zuschauerplätze beim SV Engern (Foto: ©Niklas Könner)

15:50 Uhr:
In der Gegneranalyse betrachtet scheint der nur wenige Nanometer messende Corona-Kontrahent oberflächlich zwar signifikant unterlegen. Dank seiner millionenfachen Überzahl gepaart mit unbeugsamer Ausdauer ist das in Doppellipidmembran gekleidete Virus für alle Amateurkicker jedoch kaum kontrollierbar. Mit einer hochinfektiösen Mischung aus undurchdringbarem Catenaccio und überfallartigem One-Touch-Spiel beherrscht der Erreger eine taktische Flexibilität, gegen die seit Anfang März keine Verteidigungskette des deutschen Amateurfußballs immun ist. Der destruktive Spielstil mit hohem Aggressionspotential macht zudem selbst vor Trainern, Betreuern und Zuschauern keinen Halt. Kurzum: Ein bis in die Rezeptoren unsportlicher Gegner, der gewöhnlichen Fußball über 90 Minuten seither unmöglich macht.

15:55 Uhr:
Helmut Eßmann lässt den Blick über den menschenleeren Naturrasenplatz schweifen. „Ich persönlich vermisse den Fußball sehr“, sagt der 56-Jährige schwermütig. Seit  2010 leitet der frühere Mittelfeldspieler als Vorsitzender die Geschicke beim SV Engern. Die Coronakrise trifft ihn doppelt hart – als Fußballfan und Vereinsverantwortlichen: „Wir hatten in den letzten Wochen eine außergewöhnliche Situation, die in der Form noch niemand erlebt hat. Dass einem die Freizeit so eingeschränkt wird, war ein großer Einschnitt“.

Für gewöhnlich würde Eßmann um diese Uhrzeit – kurz vor dem Anstoß – vor dem Vereinsheim stehen, mit Fans und Mitgliedern plaudern, die Mannschaften mit einem vorfreudigen Kribbeln im Bauch beim Einlaufen beobachten. In der Corona-Realität aber gleicht die unbelebte Sportanlage einem unvollendeten Gemälde im goldenen Rahmen. Eingefasst vom Zuschauerunterstand und der Grillhütte, wartet der makellose Rasenteppich förmlich flehend darauf, von Sprints,  Zweikämpfen und Grätschen heißsporniger Amateurfußballer beackert, gepflügt, zerfurcht zu werden.  Die wahrlich ausdrucksverleihenden Pinselstriche des Kunstwerkes aber entfallen: Alteingesessene Edelfans  mit normierten Bier-Bratwurst-Greifern,  schrille  Einheizerhits von Queen bis AC/DC aus den knackenden Lautsprechern und zwei von den Zehentapes bis in die Gelhaare motivierte Mannschaften.

„Natürlich fehlen in erster Linie unsere Spiele am Wochenende hier und auswärts, der ganze Wettkampf, die Spannung“, unterstreicht Eßmann die sportliche Komponente. Hinzu komme jedoch noch ein weiterer Faktor: das Gesellschaftliche. „Vielen Menschen im Verein fehlt insbesondere auch das Soziale: Dass man sich hier trifft, hört, was die Woche über gewesen ist, und was ansteht. Der Austausch ist wahrscheinlich noch das Wichtigste im Dorfverein.“

„Der soziale Austausch ist das Wichtigste im dörflichen Fußballverein“
Helmut Eßmann, Vorsitzender SV Enger
n (Foto: ©Niklas Könner)

16:00 Uhr:
In einer heilen Welt würde an dieser Stelle der Spielbeginn mit einem lautmalerischen ‚ANPFIFF!‘ beschrieben. Im Coronakosmos zerreißt die platznahe Kirchturmuhr mit vier Schlägen zur vollen Stunde die allumhüllende Stille.  Wo in diesem Moment eigentlich das sportliche Herz der Dorfgemeinschaft pulsieren würde, malt die Realität eine leblose Tristesse. Prognose: Das werden sterile 90 Minuten.

16:15 Uhr:
Ein kurzer Blick auf die anderen Plätze der Republik zeigt: Der SV Engern ist beileibe kein eremitenhafter Einzelkämpfer. Über 150 000 Amateurmannschaften aus rund 25 000 Fußballvereinen hat das Coronavirus bundesweit ausnahmslos vom Platz gestellt. Ob Damen- oder Männermannschaft, Pampers- oder Seniorenliga, Spitzen- oder Thekentruppe: Die Pandemie grätscht wie ein beinharter Verteidiger in die laufende Saison aller Alters- und Spielklassen. „Der Fußball tritt in diesen Tagen einen großen Schritt zur Seite. Er ist und bleibt die schönste Nebensache der Welt, aber eben eine Nebensache, wenn es um die Gesundheit geht“, erklärte Fritz Keller, Präsident des Deutschen Fußball Bundes (DFB), bereits am 13. März in einem Pressestatement des Verbands.

(Foto & Montage: ©Niklas Könner)

Zu diesem Zeitpunkt stieg die Zahl der Coronainifizierten rasant an; die Politik verordnete umfassende Kontaktbeschränkungen. Als Dachorganisation für über sieben Millionen aktive Kicker im registrierten Vereinsfußball verantwortlich, zog der DFB alsbald die Reißleine und empfahl zur Pandemieeindämmung die sofortige Aussetzung des Trainings- und Spielbetriebs im Amateurfußball. Die 21 Landesverbände reagierten unisono und schickten die Hobbysportler umgehend in die Zwangspause. Im gesamten Bundesgebiet ruht seitdem der Spielball. Fast 80 000 angesetzte Partien von der Regionalliga bis zur Kreisklasse wurden hernach pro Wochenende abgesagt.

16:25 Uhr
Unter Normalbedingungen wäre der Vollkörperkontaktsport Fußball mutmaßlich wohl unweigerlich ein Brandbeschleuniger der Krise geworden. Obligatorisches Abklatschen, Zweikampf-bedingtes Festhalten oder überbordender Torjubel hätten wie Öl das Viren-Feuer anfangs weiter entfachen können. Günther Distelrath, Präsident des Niedersächsischen Fußballverbandes (NFV), bekräftigte daher Anfang April nochmals das zähmende Vorgehen in einer verbandseigenen Mitteilung: „Oberste Priorität hat weiterhin die Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus und die Gesundheit unserer Mitglieder“. Zwar bleibt der Spielbetrieb weiterhin von den Infektionsflammen eingekesselt, doch die außersportlichen Löscharbeiten zeigen langsam Wirkung – und bringen dem Amateurfußball etwas Hoffnung zurück. Denn seit dem 4. Mai können Fußballclubs in Niedersachsen unter Einhaltung eines Hygienekonzepts des NFV zumindest den Trainingsbetrieb auf dem Rasen wiederaufnehmen. Oberstes Gebot lautet dabei Abstand und Kontaktverbot – auf und neben dem Platz. Dem von aufreibenden Mann-gegen-Mann-Duellen geprägten Fußball brechen damit tragende Säulen weg. Und dennoch bedeutet die Rückkehr in limitierter Form eine erste Sprosse auf der Leiter zur Normalität.

Das Zehn-Punkte-Papier des NFV dient allen Vereinen als Leitfaden für den Trainingsbetrieb während der Coronakrise (Foto: ©Niklas Könner)

16:35 Uhr
Statt wie gewohnt jetzt an der Seitenlinie postiert physische Einsatzbereitschaft einzufordern, muss Marco Gregor sein Team ins Hygienekorsett schnüren. Dem Trainer des SV Engern beschneiden die theoretischen Sicherheitsvorgaben die praktischen Optionen im neuen Trainingsalltag. „Die Anzahl der möglichen Übungen wird kleiner, zugleich soll es den Jungs aber auch Spaß machen. Deshalb ist jetzt Kreativität bei der Planung gefragt“, betont der seit Dezember 2019 amtierende Coach. Grundsätzlich sei es zwar „schön, dass wir wieder trainieren dürfen. Aber der normale Umgang, der den Fußball eigentlich ausmacht, ist eben nicht da“. Gregors größte Sorge: Dass einige Spieler ihre Fußballschuhe an den Nagel hängen könnten. In den Wochen zuvor hat er deshalb seine Schützlinge mit „Fitness-Challenges“ zu beschäftigen versucht. Ob Fahrrad fahren, Laufstrecken bewältigen oder Bierglas-Balance-Videos drehen: „Diese Aktionen bringen wieder Leben in die Bude“, weiß der erfahrene Trainer. Hinzu kommt für Gregor die Unplanbarkeit. Da nicht feststeht, wann der reguläre Spielbetrieb wieder aufgenommen werden kann, trainiert der Kreisligist derzeit auf kein konkretes Ziel hinaus.  Erst der sportliche Wettkampf komplettiere wieder das Trainingspuzzle: „Als Fußballer willst du gegeneinander spielen und einen Sieger ermitteln“, erklärt Gregor, „jetzt beschäftigen wir uns nur – mehr nicht“.

„Als Fußballer willst du gegeneinander spielen und einen Sieger ermitteln“
Marco Gregor, Trainer SV Engern
(Foto: ©Niklas Könner)

16:45 Uhr
Halbzeit. Während die Sportler schrittweise in den letzten Wochen den Sportplatz zurückerobern, bleibt das Publikum weiter ausgesperrt. Besonders auffällig wird das in der Pausenzeit, wenn Getränkestand und Grillhütte beim SV Engern gewöhnlich Hochkonjunktur verzeichnen. Beim Drei-Gänge-Menü „Bier-Bratwurst-Senf“ werden dabei regelmäßig die erste Halbzeit analysiert, die Platzverhältnisse kritisiert und der Stürmer heroisiert. Ein lebendiger Austausch über soziale Grenzen hinaus – fällt kurzerhand weg. „Uns allen fehlt die sportliche Gemeinschaft“, weiß auch SVE-Vorsitzender Eßmann. Doch der Engeraner bleibt Optimist: „ Aber daraus könnte auch etwas Positives entstehen: Dass die Vereinsarbeit zukünftig noch besser gepflegt und nicht immer von den gleichen Mitgliedern getragen wird, sondern mehr von der Allgemeinheit lebt“. Es wäre ein kleiner Lichtschimmer im finsteren Corona-Alltag.

17:10 Uhr 
Auf dem spielerfreien Gefilde wässert im Strafraum beständig ein Rasensprenger die grünen Halme. Es ist die Stelle, an der Thorben Scheermann sonst seine Gegenspieler mit geschmeidigen Dribblings austanzt. Der offensive Mittelfeldspieler des SV Engern leidet unter der eingeschränkten Freizeit: „Ich vermisse den Fußball sehr. Nicht nur das Spiel an sich, sondern auch das Drumherum fehlt: Mit den Teamkollegen zusammen sein oder nach der Partie gemeinsam ein Bierchen zu trinken“. Scheermanns Worte sind eine Blaupause für die gesellschaftliche Bedeutung des Amateurfußballs: Es geht um mehr als die reine sportliche Ertüchtigung; Fußball kann ein haltverleihender Anker sein. Diese Einschätzung teilt auch SV Engern-Trainer Gregor: „Gerade auf unserer Ebene gehen die Spieler zum Fußball, weil sie Bock auf das Spiel haben und ihre Kumpels treffen können“. Bricht diese Stütze weg, droht Fluktuation in andere Sozialräume. „Ich kann mir vorstellen, dass einige Spieler sogar die Lust am Fußball verlieren“, befürchtet auch der 19-jährige Scheermann, „man weiß ja nicht, wie lange diese Phase noch andauert“. Die Pandemie könnte so zur Zerreißprobe für den Amateurfußball werden.

„Nicht nur das Spiel, sondern auch das Drumherum fehlt“
Thorben Scheermann, Spieler SV Engern (Foto: ©Niklas Könner)

17:30 Uhr
Genauso offen wie sonst die samstäglichen Fußballergebnisse in der Schlussviertelstunde gestaltet sich nach dem ungeplanten Zwangsstopp die Frage nach der Saisonwertung. Fest steht, dass bis mindestens Anfang September keine Spiele mehr ausgetragen werden. Darüber hinaus haben die Fußballverbände für eine derartige Situation jedoch keinen druckreifen Notfallplan in der Schublade liegen. Vielmehr gleicht der Umgang mit der unterbrochenen Spielzeit 2019/20 auf Amateurebene einem Flickenteppich. Schuld daran ist die pyramidenförmige Organisationsstruktur, wobei der DFB seinen 21 untergeordneten Landesverbänden lediglich Empfehlungen ausspricht, diese jedoch autark über Abbruch oder Fortsetzung sowie Auf- und Abstiegsregelungen der Saison entscheiden. Während in Bayern also der Tabellenstand eingefroren und am 1. September mit dem nächsten regulären Spieltag fortgefahren werden soll, wurde in Schleswig-Holstein bereits ein Schlussstrich unter das Spieljahr gezogen. Weitreichende Problematiken wie länderübergreifende Transfers oder endende Verträge verlieren die Verbandsfunktionäre dabei gänzlich aus dem Blickwinkel ihrer eigenwilligen Routen.

Der niedersächsische Verband fährt dereinst einen besonders unberechenbaren Zickzackkurs. War zunächst das Einfrieren-Fortsetzen-Modell als Zieleingabe vorgesehen, navigiert der NFV nach einer Meinungsbefragung seiner 33 Kreisverbände nun doch in Richtung Saisonabbruch. Unklar ist, ob die Spielzeit annulliert oder mit Auf- und/oder Absteigern gewertet werden soll. Die intransparente Schlingerfahrt löst bei der Basis Unverständnis aus: „Wie sich der NFV gegenüber uns Vereinen verhalten hat, ist extrem schwurbelig“, sagt SV Engern-Trainer Marco Gregor, der die Saisonannullierung als fairste Lösung favorisiert. „Da merkt man, dass wir kleinen Vereine für den Verband nur Beifang sind“. Dem abstiegsbedrohten Kreisligisten aus Schaumburg würde eine baldige Entscheidung zumindest freie Planungsmöglichkeiten für die Zukunft von Verein und Spielern einräumen. Spätestens bis zum 27. Juni will der NFV auf einem außerordentlichen Verbandstag ein finales Urteil fällen.

17:45 Uhr
Schluss. Aus. Abpfiff. 90 Minuten Pandemie-Fußball gestalteten sich auf dem Sportplatz des SV Engern als zähes Ringen mit einem widerstandsfähigen Virus-Gegner. Über die gesamte Spieldauer zeigte sich auf dem Spielfeld nicht mehr Leben als kurzweilig eine Schwalbe im Strafraum. An welchem Samstag hier wieder regulärer Kreisligafußball stattfinden kann, ist kaum absehbar. Hoffentlich nicht erst wieder Ende Mai.


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